
Das Ereignis (Filmgespräch)
Als Abtreibungsdrama wurde DAS EREIGNIS beschrieben, als der Film beim Festival in Venedig Premiere feierte und mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Das ist der auf dem autobiographischen Roman von Annie Ernaux basierende Film auch, aber doch auch viel mehr: Ein Film über soziale Klassen, den schwierigen Versuch, sich als Frau in patriarchalischen Gesellschaften nicht unterkriegen zu lassen, und den Kampf um Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Anne kleidet sich vorwiegend in hellem Blau. Ihre Kleidung strahlt eine Klarheit aus, die nicht kühl anmutet, aber von ruhiger Entschlossenheit kündet. Anne stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie ist die Erste in ihrer Familie, die auf die Universität geht. Seit einiger Zeit begutachtet sie regelmäßig im Spiegel ihren Bauch, der bald nicht mehr in ihre Kleidung passen wird. Sie erwartet ein Kind, das sie nicht will. Auf das, was ihr bevorsteht, ist ihr Körper nicht vorbereitet.
Ihrer Kleidung merkt man auf Anhieb nicht an, dass Annes Geschichte in den frühen 1960er Jahren spielt: Audrey Diwan beschwört das Kolorit der Epoche ohne szenischen Nachdruck.
Wichtiger ist ihr, die herrschende Mentalität einzufangen. Literatur gilt noch als „Mädchenstudium“. Den Ruf, eine
„Schlampe“ zu sein, kann sich eine lebenslustige Frau auch ohne eigenes Zutun erwerben. Und eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet, wie eine Studienfreundin Annes sagt, das Ende der Welt. Der Abbruch wird in Frankreich noch bis 1975 illegal sein. Nachdem ihr Versuch mit einer Stricknadel scheitert, bleibt Anne nur noch der Ausweg, zu einer Engelmacherin zu gehen.
Annie Ernaux hat ihren autobiografischen Roman auch geschrieben, um das Schweigen zu brechen, das die Gesellschaft über sie und ihre Schicksalsgenossinnen jahrzehntelang verhängt hat.
Regisseurin Diwan und ihre Co-Autorin haben die Vorlage achtsam adaptiert und ein Äquivalent zu deren Tagebuchform gefunden, indem sie die Handlung mit der Einblendung der Schwangerschaftswochen strukturieren. Diwan zeigt sich als eine empfindsame Begleiterin, die nicht von der Seite ihrer Heldin weicht. Anne hält den Blicken stand, die ihre Umgebung auf sie richtet, und wirft sie wachsam zurück. Es ist ein Parcours schrecklicher Anfechtungen, den Anne bewältigen muss. Diwan schildert ihn mit einer Nüchternheit und Präzision, die der Einfühlung nicht im Weg stehen. Am Ende wird es Anne geschafft haben, so wie es Annie Ernaux schaffte, doch der Weg dahin war schwer und hat Narben hinterlassen.
Wir zeigen den Film in Kooperation mit der Pro Familia Beratungsstelle Schwäbisch Hall und dem Diakonieverband Schwäbisch Hall anlässlich des Safe Abortion Days (Internationaler Tag für sicheren Schwangerschaftsabbruch), der weltweit jährlich am 28. September stattfindet und Anlass ist, auf die Rechte zur reproduktiven Selbstbestimmung aufmerksam zu machen, die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine Verbesserung der medizinischen Versorgung zu fordern. Beraterinnen und Berater von Diakonieverband und Pro Familia stehen für weitere Informationen zur lokalen Situation und zum informellen Austausch zum Thema Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung.
L‘ événement; Frankreich 2021; Regie: Audrey Diwan;
mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet-Klein, Sandrine Bonnaire u.a.; Länge: 100 Min.